Episode auf dem Bahnsteig

In dem großen Bahnhof, in dem Menschen in Scharen vorüberhasten, mit ihren Gedanken und Absichten beschäftigt und nur zur oberflächlichen Betrachtung der Umwelt fähig, herrscht auch die Einsamkeit.
Es gibt die Paare, die ungeachtet allen Lärms und im Strom anderer Reisender, für Stunden oder Tage voneinander Abschied nehmen. Aber manchem mag doch der große Bahnhof das Gefühl wecken, unter fremden, unbekannten, unbeteiligten Menschen zu stehen, mit sich und seinen kleinen Sorgen allein.
In dem großen Bahnhof stand ein altes Mütterchen vor der Fahrplantafel, bedrängt von Eiligen, hilflos. Wer weiß, wie lange die Frau noch mit ihren schwachen Augen auf die kleinen Ziffern gestarrt hätte; doch ein anderer, ein junger Mann, vergaß die Hast.
"Nun, was suchen Sie denn ? - Den Zug nach Darmstadt, gleich, hier - ach, da haben Sie noch Zeit. In einer halben Stunde fährt der erst, auf Bahnsteig 10." Und dann wehrte er mit einem "Schon gut !" den Dank der Frau ab.
In dem großen Bahnhof nahm die Menge die beiden wieder auf, die sich nicht kannten und sich auch nicht mehr kennen werden. Das Mütterchen ging zum Bahnsteig 10 und suchte dabei wohl ein wenig nach dem netten jungen Mann, der schon längst in seinem Zug aus der Halle rollend auf eine wunderliche Weise mit sich und dem Leben recht zufrieden war und gar nicht merkte, daß dies der kleine Lohn der Hilfsbereitschaft war.


Wilhelm Niemeyer

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