Moment musical

Geschwindigkeit ist der Stolz unserer Zeit. Wenn einer mit hundert Kilometern über die Landstraße braust, bläht er sich ein wenig auf, als ob es sein Verdienst wäre, daß es so schnell geht. Freilich, wenn sich ein Ochse über den Weg stellt, dann ist es aus mit dem Stolz, und die hundert Pferde müssen vor dem Ochsen halten.
Automobilfahrer fangen dann an, über den Ochsen zu schimpfen. Sie ahnen nicht, daß der Ochse ein Wink des Himmels ist, der sie an die Unvollkommenheit nicht der Landstraße, sondern des Lebens erinnern soll.
Man möchte meinen, wenn der Himmel mit einem Ochsen winkt, müßte das zu sehen sein. Aber die Menschen sind blind bis zu dem Baumstamm, an welchem Hoffart und Geschwindigkeit so leichthin in einem Haufen Blech und Knochen ihr Ende nehmen.

Der Zeitgenossse, der mit dem D-Zug über die Schienen eilt, ist besser dran.
Irgendwo zwischen Marktredwitz und Weiden kreischen plötzlich die Bremsen und der D-Zug hält. Der Reisende liest noch sieben Zeilen des Leitartikels in seiner Zeitung. Dann sieht er auf, öffnet das Fenster und blickt hinaus.
Es ist halb sieben Uhr abends.
Die Sonne schickt sich soeben an, in großer Pracht und Herrlichkeit über blauen, fernen Hügelketten unterzugehen. Ein weißer Streifen Abendnebel zieht langsam vom Bach herauf. Eine Kuh blickt mit ihrem großen, seelenvollen Auge still und nachdenklich den D-Zug Berlin-Rom an und wedelt mit dem Schwanz.
Man braucht nicht anzunehmen, daß sie sich bewußt ist, zwischen Rom und Berlin zu stehen, sowenig wie sie weiß, daß Ihr Schwanz zwischen Paris und Moskau hin und her pendelt. Sie steht auf einer Wiese, welche älter ist als Rom, Moskau und Paris zusammen. Sie steht schlechthin.
Der Zeitgenosse, der bis zum Kreischen der Bremsen nur ein lächerliches Partikel der Zivilisation war, erblickt aus dem haltenden Zug plötzlich eine uralte Wiese. Er blickt auf die Astern im Garten des Bahnwärterhauses. Er sieht eine Katze, einen Mann, ein Kind. Er sieht Rauch aus einem Schornstein steigen und riecht Bratkartoffeln.
Sofern er das nur alles wirklich bemerkt, ist er schon ein Mensch. Es ist ein 'Moment musical' der Philosophie. Wenn der Himmel mit einer Aster winkt, dann möchte jeder Bahnwärter werden.
Der Mann, der später die Bratkartoffeln essen wird, gibt die Strecke frei, die Strecke nach Rom. Vielleicht ist er hungrig. Die Bremsen lockern sich. Der Zug fährt an. Der Mensch wird aus der Stille der Betrachtung wieder in den rasenden Strom der Geschwindigkeit hineingerissen.

Peter Bamm

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