Das Flöten der Amsel

Es war ein schöner Sommerabend; und obgleich Alice der Ansicht lebte, daß es Damen gezieme, sich auf Eisenbahnstationen der Öffentlichkeit durch einen Rückzug in die Wartesäle zu entziehen, versuchte sie dennoch nicht, Lydia vom Auf- und Abgehen auf einem unbelebten Ende des Perrons, der in einem blumenbestellten Damm auslief, irgendwie abzuraten.
"Meiner Ansicht nach ist Clapham Junction einer der hübschesten Plätze in London."
"Nicht möglich", meinte Alice maliziös. "Ich dachte, alle künstlerisch veranlagten Menschen erachteten Kreuzungsstationen und Schienenstränge für häßliche Flecken in der Landschaft."
"Einige von ihnen", entgegnete Lydia. "Aber das sind nicht Künstler unserer Generation. Und die, die ihr Geschrei aufnehmen, sind nicht besser als Papageien.
Wenn jegliche Festtagserinneung meiner Jugend, jede Flucht auf das Land mit der Eisenbahn im Zusammenhang steht, so muß ich ihr andere Gefühle entgegenbringen, als mein Vater es tat, in dessen reiferes Mannesalter die Bahn als eine monströse eiserne Neuerung hereinbrach. Die Lokomotive ist eins der Wunder moderner Kindheit.
Kinder scharen sich auf einer Brücke, um den Zug darunter hindurchfahren zu sehen. Kleine Jungen stolzieren die Straßen entlang und pfeifen und pusten dabei, um die Maschine nachzuahmen. All diese Romantik, so albern sie scheinen mag, wird im späteren Leben zu etwas Heiligem.
Und außerdem ist ein Eisenbahnzug ein schönes Ding, wenn er nicht gerade unter der Erde in einem stickigen Londoner Tunnel einherfährt. Der reine weiße Flaum seines Dampfes steht mit jeglicher Variation der Landschaft in harmonischem Einklang.
Und dann erst die Töne! Haben Sie jemals am Meeresufer gestanden, das ein Schienenstrang umsäumt, und auf den Zug gelauscht, wenn er in entlegener Ferne in Hörweite kommt? Anfänglich kann man ihn von dem Rauschen der See kaum unterscheiden; dann erkennt man ihn durch die Abwechslung der Laute: einen Augenblick lang wird der Schall in einer tiefen Einbuchtung abgeschnitten, im nächsten wirft ihn das Echo des Hügels zurück. Zuweilen läuft der Zug mehrere Minuten lang leise dahin, dann ertönt plötzlich ein rhythmisches Gerassel, das fortwährend an Deutlichkeit und räumlicher Entfernung wechselt.
Wenn er sich nähert, sollten sie sich einmal in einen Tunnel stellen und dort stehen bleiben, während er vorbeifährt. Ich habe es schon getan: es war wie die letzten Passagen aus einer Beethovenschen Ouvertüre, wie gewaltiges Donnerbrausen.
Ich kann nicht begreifen, wie jemand sich einbilden kann, die Eisenbahn durch einen Vergleich mit der Postkutsche herabzusetzen; ich habe eine ziemlich ausreichende Kenntnis von Postkutschen oder wenigstens von Diligencen (=Eilpostkutschen). Die Wirkung, die die Postkutsche auf die mit ihr beschäftigten Männer ausübt, sollte die Superiorität des Dampfes ohne jegliche weitere Begründung klarlegen. Ich habe noch niemals einen Lokführer gesehen, der nicht den Eindruck eines ausnehmend intelligenten Menschen machte; die Schriftsteller und Künstler aber, die das Andenken der Postkutschentage für uns aufgespeichert haben, können Postillione niemals ernst genommen oder sie für verantwortliche und zivilisierte Menschen gehalten haben.
Eine Verunglimpfung der Eisenbahn vom idyllischen Standpunkt aus ist längst veraltet. Es gibt Millionen ausgewachsener Menschen in England, denen das ferne Geräuch eines Zuges dieselben lieblichen Empfindungen erweckt, wie das Flöten der Amsel."

Bernard Shaw

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